Bloghoppeln 2025: Gastbeitrag von Nessa Altura
Bloghoppeln 2025: Eine Kurzgeschichte von Nessa Altura
Bald hoppeln die Osterhäsinnen (oder -hasen) wieder. Und beim Texttreff legt jede bloggende Textine einer anderen ein Gast-Ei ins Nest. Diese Aktion heißt dementsprechend Bloghoppeln. Wer wen beschenken darf, wird zufällig ausgelost. Somit erhält jede Teilnehmerin von einer anderen einen Blogbeitrag (ähnlich wie beim Blogwichteln).
Ich selbst nehme zum ersten Mal an einer solchen Aktion teil (bisher waren es vor allem Blogparaden) und freue mich, dass Nessa Altura in diesem Jahr bei mir ein „wildes“ Überraschungsei versteckt hat.
Wer ist die Autorin? 
Nessa Altura lebt in der Nähe von Stuttgart. Sie war Lehrerin, Reiseberichterstatterin und arbeitet als Schriftstellerin. Ihre Kurzgeschichten, Erzählungen und Bücher (print und ebook) sind preisgekrönt. Seit 2010 betreibt sie das „erste Briefversandhaus“ im Netz. Die Idee hierfür hatte sie auf ihrer persönlichen Jakobsweg-Wanderung. Der Autorenexpress verschickt individuelle Briefe, Postkarten, Luftpostbriefe und Booklets, je nach Abo. Nessas Kunden beschenken sich selbst oder andere. Abonniert werden kann im Netz, gelesen wird ganz analog – damit der Briefkasten nicht mehr verhungern muss.
Für meine Bloghoppelei hat mir Nessa Altura eine stimmungsvolle Kurzgeschichte zur Verfügung gestellt. Darin geht es um die beeindruckende Natur der Berge, einen geheimnisvollen Beobachter – und ein klein wenig auch um das Älterwerden an sich. Viel Spaß auf der Loipe!
Seine Majestät, der Alpengott
Urban Voigt schnauft und schweigt. Er bewegt seine Beine in langsamem Rhythmus vorwärts und achtet auf seine Arme. Seine Finger sind kalt, aber der ganze Körper ist warm und in Gesicht und Nacken ist ihm heiß. Sein Gehirn ist frei von Gedanken, er hat gut damit zu tun, alle Bewegungen seiner Gliedmaßen flüssig miteinander zu kombinieren.
Früher hat er darüber gelacht. Als Urban V. noch jünger war, hat er diese neue Mode eher albern gefunden. Spazierengehen, wandern, okay, das machte man im Sommer. Aber auf Skiern durch die Gegend zu schlurfen, was sollte das? Wer den Abfahrtslauf liebte und beherrschte, so wie Urban es tat, der brauchte so etwas nicht.
Es schien ihm wie der watschelnde Gang von Vögeln auf der Erde, die doch unter den Wolken die Könige der Lüfte waren, selbst der allerkleinste unter ihnen.
Wenn Urban früher die Hänge hinuntergerauscht war, in hohem Tempo, wenn er seine Kurven mühelos absolviert hatte, dann war das so etwas wie Fliegen gewesen. Etwas Göttliches, Freies, Unbesiegbares. Stürze hatte es nur ganz selten gegeben, ein Augenblick der Selbstüberschätzung, eine Zehntelsekunde der Unaufmerksamkeit, ein Strauch, ein Stein, ein jäher Wechsel der Konsistenz des Schnees. Immer hatte es einen Grund gegeben, oft einen Fehler seinerseits.
Auch Piloten von Jets machten Fehler, auch Gott hatte Fehler gemacht. Zum Beispiel, als er die nutzlosen Stubenfliegen erfunden hatte, die im Sommer – der vielen Kühe auf den Almen wegen – den Gang in die Berge an gewissen gewittrigen Tagen vergällten.
Da – eine Bank am Wegesrand. Wie angenehm! Urban steigt gemächlich aus seinen Bindungen, bückt sich langsam zu seinen schmalen Hölzern hinunter, ergreift sie und lehnt sie gegen die Bank. Nun noch die Hände aus den Schlaufen der langen Skistöcke schlüpfen lassen und die Handschuhe an den Fingerspitzen greifen – tschakka, ausgezogen!
Schnee an Ostern! Selten genug. Und so schwer!
Er schüttelt den Kopf. Plötzlich hält er mitten in der Bewegung nne. Sieht ihm da wer zu? Grinst sich eines über den Opa, der Selbstgespräche führt? Nein, er ist allein.
Diese Loipe ist ihm fremd. Er macht zum ersten Mal hier Osterurlaub. Urban hat sich vorgenommen, jedes Jahr ein neues Alpental kennenzulernen, auch, wenn es etwas mühsam war, sich immer wieder umzustellen… aber er fühlt eine innere Verpflichtung, seine geliebten Alpen zu durchdringen, ja, alle ihre Winkel und Falten und Kämme und Vor- und Hauptberge in sich aufzunehmen.
Oh yes, Urban Voigt hat viele Gebirge gesehen, die Rockies, die Karpaten, die Pyrenäen, den Kaukasus, die zahllosen Dreitausender in Taiwan, den Hohen Atlas in Marokko, die schneebedeckten Anden. Alles Faltungen, die in die gleiche geologische Zeit gehörten, in die jüngere, in das Tertiär. Das war doch richtig, oder?
Urban kratzt sich hinter dem linken Ohr, eine Gebärde, die er sich angeeignet hat, um eine gewisse Unsicherheit – die zunimmt, je älter er wird – zu verbergen. Er lässt die Hand wieder sinken. Dieser Angewohnheit ist er sich erst neuerdings bewusst geworden und es hat ihn ein wenig geniert. In seinem Alter unsicher? Doch, ja, natürlich, man bekommt einfach nicht mehr alles mit, was so um einen herum vorgeht. Und warum sollte man dazu nicht stehen? Er sieht sich um, hat wiederum das Gefühl, nicht allein zu sein. Nein, da ist niemand. Da sind nur er, die Tannen und die Bank. Und die Loipe: zwei schnörkellose Parallelen. Was hat er noch gleich zuletzt gedacht?
Er nimmt den Faden wieder auf: Ja, die Alpen sind das Größte, er hatte ja genug Vergleich. Größer konnte nur noch der Himalaya sein, aber den würde er in seinem Leben nun nicht mehr schaffen, den musste er sich für das nächste aufheben. Er lächelt ein wenig in sich hinein. Was war nun an den Alpen so viel besser als an den anderen Gebirgen dieses Planeten? Sie waren scharfkantiger, spitzer, höher, vielgestaltiger, überraschender, herrschaftlicher, furchteinflössender, gewaltiger. Sie waren schroff und böse, mild und süß, eisig und abweisend, bewaldet, bewiest und besteint. Grau und blau, grün und weiß, schwarz und rostfarben. In jeder Jahreszeit besonders. Und im beginnenden Frühling bezaubernd.
Nun heißt es aber weitermachen! Urban tritt in die Bindungen, schnell und sicher, nimmt die Stöcke auf und rutscht in die Loipenspuren, die ihn wie eine Straßenbahn auf Schienen entlanggleiten lassen. Es ist noch besser, wenn die tiefen Bahnen, die die Spurmaschine hinterlassen hat, ein wenig angeeist sind. So wie jetzt. Dann bildet sich ein feiner Wasserfilm zwischen Schnee und Holzunterseite – nicht doch, wahrscheinlich eher Plastik! – und man saust fast schon wie ein Eisläufer voran. Wenn man dann in den richtigen Rhythmus verfällt, gleicht der Skilanglauf einem Akt der Meditation. Arme und Beine in gegenläufiger Bewegung, der Atem kontrolliert, der Rücken gespannt, die Augen wachsam, der Geist frei. Yessir, sagt sich Urban, auch der Langlauf kann genossen werden, wenn man ihn richtig beherrscht. Auch da geht es um Geschwindigkeit, nicht talwärts, sondern eher … naja … horizontal.
Wieder kommt es ihm so vor, als beobachte jemand seine sportlichen Bemühungen, womöglich mit einem gewissen Amusement? Aber Urban erblickt niemanden. Er ist ganz allein im unendlichen Weiß. Er kann nicht wirklich erkennen, wohin die Reise geht – ein feiner Nebel liegt zwischen den Tannen, die Spur geht Hügelchen hoch und wieder hinunter, einen Horizont gibt es nicht, nur hellgraues gedämpftes Licht und verschwimmende Konturen. Es ist später Nachmittag, lange würde es nicht mehr hell sein, er muss sich sputen. Nun kommt ein Zwiebelturm in sein Blickfeld, eine kleine Kapelle, die ganz allein auf halbem Hang thront, ein Wallfahrtskirchlein vielleicht, womöglich mit einem Kreuzweg? Tatsächlich, da ist ein Marterl und darunter eine Bank. Urban kann der Verlockung nicht widerstehen und lässt sich erneut nieder, diese Mal aber ohne die Skier abzuschnallen. Nur für einen Augenblick, sagt er sich und wackelt mit dem Zeigefinger, so als wolle er sich selber schelten. Im Gleichen Moment fühlt er wieder, dass er beobachtet wird. Er wendet sich nach allen Seiten, so weit es sein in der unteren Hälfte festzementierter Körper zulässt. Das ist das Ärgerlichste am Älterwerden, dass man den Kopf nicht mehr drehen und wenden kann!
Und plötzlich sieht er Ihn aus dem Augenwinkel.
Urban erstarrt. Dass so etwas möglich ist! Nicht mehr als drei oder vier Meter entfernt … auf einem Felsvorsprung steht Er und beobachtet Urban. Seine dunklen Augen haben etwas Undurchdringliches, Steinernes, Seine Kopfhaltung ist stolz, Sein Bart glitzert von Eiseinsprengseln. Sein Gehörn ist majestätisch, grau und lang gebogen, von ringförmigen Ausbuchtungen geschmückt. Seine spitzen Ohren zucken, aber Sein Körper, der sicher über hundert Kilo wiegt, bewegt sich nicht ein Jota. Er sieht Urban an, mit einer Intensität, die den alten Mann so etwas wie Ehrfurcht oder gar Angst fühlen lässt.

War Er ihm gefolgt? Hatte Er schon zuvor irgendwo gestanden und ihn, den Menschen mit den lächerlichen Fußhölzern, fixiert? Will Er ihm zeigen, wer hier der Herr der Berge ist? Betrachtet der Gehörnte ihn als lästigen Eindringling? Ist Er der archaische Alpengott, von geheimen Mächten getragen? Der Gehörnte lässt jetzt ein lautes aggressives Blasen durch die Nüstern hören und Urban macht sich unwillkürlich fluchtbereit. Er stolpert über seine gekreuzten Skier und taucht kopfüber in den Schnee.
Der Gehörnte niest einmal kurz und verächtlich und verschwindet. Es scheint, als könne er fliegen, die Hänge hinauf, über die Baumgrenze hinweg, in die eisigen Höhen des Himmels.
Ein Steinbock!
Urban schluckt Schnee und wischt sich Schnee und Tränen von der Backe.
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Vielen Dank, dass Du dieses beeindruckende Aufeinandertreffen von Mensch und Tier in den Bergen mit uns geteilt hast, Nessa Altura!
Ich habe mein Gast-Ei übrigens in das Blognest von Silke Bicker gelegt und über den Gartenschläfer geschrieben.
Wer sich für Bilche im Allgemeinen interessiert, findet auf meinem Blog auch je einen Beitrag über die Haselmaus und den Siebenschläfer. Es lebe der Winterschlaf!
Letztes Update: 14.04.2025
KI-Transparenz-Skala (kurz KI/TS):
Kurz gesagt: Alle Texte und Bilder wurden von einem echten, realen Menschen erstellt. Die Begleittexte und das Hasenbild stammen von mir, das Logo vom Texttreff und die Kurzgeschichte von Nessa Altura. Die Steinbock-Zeichnung ist von William H. Powell (New-York), mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung an dieser Stelle.
(Copyright William H. Powell, reprint with kind permission. Best regards and many thanks to New-York!)